Marcel Proust • Im Schatten junger Mädchenblüte II

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 2

erschienen 1918
***

Proust, seine Großmutter und die Dienerin Francoise machen Urlaub an der See im Grand Hotel von Balbec. Schon bald lernen sie dort allerlei illustre Leute (Robert de Saint-Loup, Marquise de Villeparisis) kennen, mit denen sie ihre Zeit verbringen.
Proust bewundert das Meer, die Landschaft und die anderen Badegäste. 
Er macht die Bekanntschaft einer Gruppe junger Mädchen um Albertine Simonet, die in ihm ein Wechselbad der Gefühle auslösen. 
Mit dem Maler Elstir beginnt er zu philosophieren - über Gewohnheiten, Freundschaften und das Leben an sich. 



Ortsnamen • Die Landschaft

In gewissen Fällen besteht, da Sesshaftigkeit die Tage erstarren lässt, das beste Mittel, Zeit zu gewinnen in einem Wechsel des Ortes. 

Gewöhnlich leben wir mit einem auf das Minimum reduzierten Teil unseres Wesens, die meisten unserer Fähigkeiten wachen gar nicht auf, weil sie sich in dem Bewusstsein zur Ruhe begeben, dass die Gewohnheit schon weiß, was sie zu tun hat, und ihrer nicht bedarf.  

Der Geiz ist tatsächlich dem Prestige nicht abträglich, da er ein Laster und demgemäß in allen Gesellschaftsklassen zu Hause ist. 

Ich nahm  Zuflucht zu den verborgenen Bezirken meines Innen, ich versuchte es mit Abwanderung ins Reich der ewigen Werte, zog alles Persönliche, alles Lebendige von der Oberfläche meines Körpers weg - bis sie fühllos wurde wie die der Tiere, die sich totstellen, wenn man sie verletzt - um nicht zu sehr an diesem Orte zu leiden. 

Unsere Aufmerksamkeit füllt ein Zimmer mit Gegenständen an, doch unsere Gewohnheit läßt sie wieder verschwinden und schafft uns selber darin Platz. 

Gewiß können diese neuen Freundschaftsgefühle für Orte und Menschen nur auf dem Grund des Vergessens der alten entstehen... 

... das aber bedeutete die Unterdrückung jedes Verlangens nach Formen des Lebens, die man nicht kennt, sowie jegliche Neugier darauf, das Aufgeben auch der Hoffnung, neuen Menschen zu gefallen, ... welche den Nachteil haben, dass man sein Mißvergnügen hinter Zufriedenheit verbirgt und sich ständig selbst belügt...  

Ihr Hochmut bewahrte sie vor jeder menschlichen Sympathie, vor jedem Interesse an den Unbekannten...

... auf Grund meiner Neigung, mich  in die Leute hineinzuversetzen und ihre eigene geistige Verfassung in mir nachzuschaffen... 

Lücken der Empfindungsfähigkeit,
die geringe Weite des Seelenraums, 
der bescheidene Vorrat an Willen,
Verdorrung des Herzens,
die Welt der Halbheiten,
der Ausweg des Neides,
die Gefahr der strikten Unmöglichkeit,
die Dunkelkammer im Inneren,
vollkommen mittelmäßig,
ein völlig zweckloses Denkbedürfnis,
das Prinzip des mehrfachen Zwecks,
eine Lösungsart für die Problem des Daseins

fragmentarische Beobachtungen anzustellen und oft daraus irrige Folgerungen zu ziehen 

So müßte, wäre nicht die Gewohnheit dafür ein Hindernis, das Leben denen köstlich erscheinen, die täglich vom Tode bedroht sind - allen Menschen demnach.  

unsere von unerfüllter Sehnsucht überreizte Phantasie 

... wie sinnlos es doch sei, aus bloßen Schicklichkeitsgründen meinen Teil an Glück in dem einzigen Leben, das uns zweifellos beschieden ist, einfach dranzugeben. 

... wieviel Weisheit in der Haltung der Philosophen liegt, die uns zur Beschränkung unserer Wünsche raten.

...  die ohnmächtige Trauer eines geliebten Wesens zu erkennen,, das den Gebrauch der Sprache verloren hat, das fühlt, es werde uns nicht sagen können, was es  ausdrücken will und was wir nicht zu erraten vermögen. 

Ganz von Ungeheuern und Göttern umringt, kennt man fast keine Ruhe.

Der Freund hingegen hat das Bedürfnis, zu wiederholen oder aufzudecken, was einem am unangenehmsten zu hören ist; er selbst aber ist von seinem eigenen Freimut entzückt und erklärt mit Nachdruck: "Ich bin nun einmal so."

Jeder unserer Freunde hat in dieser Weise seine Fehler, so dass man, um ihn auch weiterhin zu lieben, notgedrungen den Versuch machen muss, darüber hinwegzusehen.

Neben der schlechten Gewohnheit, von sich selbst und seinen Untugenden zu sprechen, muss auch die damit eng zusammengehörige erwähnt werden, die darin besteht, bei anderen die Fehler aufzuzeigen, die genau denen entsprechen, welche man selber hat.

Dazu kommt noch, dass jedes Laster ebenso wie  jeder Beruf seine Spezialkenntnisse erfordert und ausbildet. 

Jeder von uns hat seinen speziellen Gott, der ihm seine Fehler verbirgt oder deren Unsichtbarkeit trügerisch garantiert... 

Diese Art,  den Geist, den Wert eines Menschen, das Interesse, das er verdiente, mit zweierlei Maßen  zu messen, erstaunte mich immer wieder... 

... einen unermüdlichen, aber zwecklosen guten Willen daransetzen, vom Gegner Aufklärung zu erhalten.

Wenn man mit den Menschen zusammen ist, die man liebt, ist es ganz gleich, ob man mit ihnen spricht oder nicht. 

Im übrigen ist es immer falsch, Gefühle lächerlich oder blamabel zu finden, die man nicht hat. ... Ich bemühe mich, alles zu verstehen, und hüte mich, jemand zu verdammen. 

Sie sollten nicht so hitzig auf Dinge reagieren, deren tieferen Sinn sie noch nicht begriffen haben.  

Denn das ist ja eben das heilsame Wunder der Eigenliebe, dass die Menschen, denen glänzende Verbindungen und tiefe Kenntnisse - über die natürlich nur wenige verfügen können - abgehen, sich dennoch für bevorzugt halten... 

Da der egozentrische Gesichtspunkt jedem Menschen auf diese Weise gestattet, das Weltall so zu sehen, als fiele es unterhalb von ihm stufenweise ab, während er oben als König thront... 

... die Liebe - und infolgedessen die Furcht - gegenüber der Menge ist eine der mächtigsten Triebkräfte des Menschen, sei es, dass sie den anderen gefallen, sie verblüffen oder aber ihnen zeigen wollen, dass sie sie verachten. 

Denn man kann nicht vollkommen kennenlernen, nicht völlig sich unterwerfen, was einen eben noch verachtet hat, solange man diese Verachtung nicht hat besiegen können. 

Bevor wir eine große Sache richtig kennen, ist unsere größte Sorge, wie wir sie mit gewissen Vergnügungen in Einklang bringen können, die gleichwohl keine Vergnügungen mehr sind, sobald wir mit jener erst vertraut geworden sind. 

... wenn wir in eine Frau verliebt sind, einfach einen Zustand unserer Seele in sie hineinverlegen und dass infolgedessen nicht der Wert der Frau, sondern das Niveau unseres Zustands einzig von Wichtigkeit ist.

Solange sie ihren Geist von seinen Träumereien abzulenken versuchen, wird er nicht fertig damit; sie werden der Spielball von tausend Phantomen sein, deren Natur sie nicht kennen. ... Man muss seine Träume ganz genau kennen, wenn man nicht mehr daran kranken will. 

Ebenso kommt es vor, dass von einem bestimmten Alter an das Auge des Forschers überall die Elemente entdeckt, die er für die Herstellung von Verbindungen braucht, die allein ihn interessieren. 

Kein Mensch ist so überlegen, dass er nicht in irgendeiner Phase seiner Jugend Dinge gesagt oder ein Leben geführt hätte, an die er nur ungern erinnert wird und die er am liebsten rückgängig machen würde. Aber er soll nicht zu sehr bedauern, dass es so und nicht anders war, weil nur sicher sein kann, dass er - soweit wie möglich - ein Weiser geworden ist, wer durch alle Inkarnationen der Lächerlichkeit oder Schändlichkeit hindurchgegangen ist, die vor jener letzten Inkarnation liegen. ... Man kann die Weisheit nicht fertig übernehmen, man muss sie selbst entdecken auf einem Weg, den keiner für uns gehen und niemand uns ersparen kann, denn sie besteht in einer bestimmten Sicht der Dinge. 

... denn das Dasein hat eigentlich nur an jenen Tagen Sinn, wo der Staub der Realitäten magischen Sand mit sich führt, wo irgendein banaler Vorfall des Tages etwas romanhaft Bedeutungsvolles bekommt. 

Ich versuchte die Schönheit der Dinge dort zu erkennen, wo ich sie mir niemals vorgestellt, in den gebräuchlichen Dingen, jenem intensivierten Da-sein, das auf "Stillleben" dargestellt wird.

Der Wille ist ebenso unbeugsam, wie Verstand und Gefühl veränderlich sind, aber da er schweigt, teilt er seine Gründe nicht mit, er scheint fast nicht da zu sein; die anderen Teile unseres Ich aber folgen seiner festen Entschlossenheit. 

Denn was die Leute getan haben, tun sie unaufhörlich und weiterhin.

Das Individuum webt in etwas, das allgemeiner ist als es selbst. 

Jedes Wesen zerfällt, wenn wir es nicht mehr sehen.

Diese Art von Unaufrichtigkeit, die im Keim übrigens bei einer ungeheuer großen Zahl von Menschen existiert... 

... denn um wirklich durch eine Frau zu leiden, muss man vollkommen an sie geglaubt haben. 

Diese Irrtümer beruhen oft darauf, dass Menschen Ausdruck und Haltung dessen annehmen, was sie nicht sind, aber sein möchten, um im ersten Augenblick Illusionen zu schaffen. 

jene Meinungen, die meist unsere Seele unbewusst beherrschen 

gemeinsam Zerstreuungen zu ersinnen, in denen das wahre Geheimnis, sich gegenseitig Freude zu machen, liegt 

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